Die Reportage „Der Wirbelsturm” entstand im Dezember 2014 aus meinem Bedürfnis heraus, Erinnerungen noch lebender Zeitzeuginnen der Flucht aus Ostpreußen und der Besiedlung dieser Gebiete durch Polinnen und Polen festzuhalten. Sie erscheint 2025 in der Dezemberausgabe des Heimatbriefs „Osteroder Zeitung”, der von der Kreisgemeinschaft Osterode Ostpreußen herausgegeben wird.
Olga Żmijewska, Der Wirbelsturm (Idzbark, Dezember 2014)
Es ist ein glasklarer Sonntagmorgen Ende Dezember 2014, als ich im zweiten Stock der Pension meiner Eltern in dem polnischen Dorf Idzbark aus dem Fenster schaue. Die Ortschaft trug bis ins Jahr 1945 hinein den deutschen Namen Hirschberg und lag im ostpreußischen Oberland im Kreis Osterode Ostpreußen. Die Ahornallee, die an Sommerabenden in der Glut der untergehenden Sonne zu schmelzen scheint, steht jetzt weiß und bleiern da. Es herrscht Windstille. Der Himmel lichtet sich, und Sonnenstrahlen fallen zuerst auf den hinter der Allee gelegenen Dorfsportplatz, dann auf den kleinen Dorffriedhof aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg. Mein Fensterblick ist ein idyllisches Bild in Babyblau, Weiß und Grau. Der Schnee bedeckt alles, Raum und Zeit sind wie tiefgefroren. Eine Kaffeetasse in der Hand, versinke ich in Gedanken und reise in den Januar 1945.

Zwei Stunden bevor am Freitagmorgen, den neunzehnten Januar 1945, in Hohenstein die Sonne aufgeht, machen sich Heinz Erling, sein Cousin Fritz Bonin und dessen jüngerer Bruder Lothar auf den Weg zum Hohensteiner Bahnhof. Sie kehren der nach ihrem berühmten Abgänger benannten Behring-Schule buchstäblich den Rücken und marschieren zügigen Schrittes durch den eiskalten Morgen, um den Sechsuhrzug nach Osterode zu bekommen. Von dort aus will Heinz in das sechs Kilometer entfernte Lubainen laufen. Fritz und Lothar sind in dem zwei Kilometer weiter gelegenen Hirschberg zuhause, wo ihre Mutter jetzt ahnungslos ihre zwei kleinen Töchter versorgt. Die drei Burschen sind nicht gerade stolz darauf, die Schule zu schwänzen. Sie fassten diesen Beschluss am Vortag, als sie von der Dachluke ihrer Schule aus den Himmel über dem 30 km entfernten Neidenburg blutrot aufleuchten sahen. Es schien zu stimmen, was Heinz an diesem Tag auf dem Postamt gehört hatte. Die Russen waren da. Nicht ahnend, dass kurze Zeit später Bomben auf die Bahnhofsgegend von Hohenstein fallen werden, besteigen die drei den Zug. Den letzten Zug, der Hohenstein in Ostpreußen in diesem Winter wird verlassen können, und zwar pünktlich um sechs Uhr in der Früh. Wie es sich gehört. Die Strecke verläuft in der Nähe des größten ostpreußischen Kriegsgefangenenlagers, Stalag 1 b Hohenstein, in dem sich dieser Tage keine halbtoten, getünchten Leiber mehr in den Massengräbern rühren. Bis vor wenigen Wochen unterstand es noch dem Generalleutnant Oskar von Beneckendorff und von Hindenburg, dessen Vater gleich nebenan im Reichsehrenmal Tannenberg ruht. Aber nicht mehr lange. Von Ruhe kann sowieso keine Rede mehr sein. Der Zug überquert die Neidenburger Chaussee. Den Schulschwänzern vergehen jegliche Gewissenbisse, als sie die Kolonnen von Flüchtlingswagen nach Norden ziehen sehen.
Vielleicht sitzt oder steht in diesem letzten Zug auch Hilde Butschkowski, ein junges Fräulein aus Steinfließ nahe Döhlau, das seine Pflichtlehre bei einem Zahnarzt in Hohenstein macht; und vielleicht ist Hilde mit ihren achtzehn Jahren noch zu jung, um die Weitsicht ihres Arbeitgebers wertschätzen zu können, der sie zur Ausreise gedrängt hat. Vermutlich ärgert sie sich, dass ihr keine Zeit geblieben ist, um sich von der Mutter und den beiden jüngeren Schwestern, Edith und Christel, daheim zu verabschieden. Hilde fährt ihrer sicheren und bequemen Zukunft im rheinländischen Meerbusch-Büderich entgegen. Die Mutter und die jüngeren Schwestern hingegen werden eines Tages in einem anderen Staat aufwachen, ohne sich vom Fleck gerührt zu haben. Aber langsam. Jetzt werden sie sich erstmal rühren müssen, um später doch nicht vom Fleck zu kommen. Das ist das Verrückte in dieser Zeit, in der ein monströser Kehrbesen durch Europa fegt und schätzungsweise 30 Mio. Menschen durcheinanderwirbelt wie Staubflocken auf dem Flurboden. Den fegt an diesem kalten Freitagmorgen Ottilie Butschkowski, als ihre jüngste Tochter Christel das Haus verlässt, um mit der zwölf Jahre alten Edith zur Volksschule in Döhlau zu marschieren. Mit dem Schulranzen auf dem Rücken wartet Edith schon draußen im Schnee und schaut neugierig zu dem Gutsverwalter auf, der ihr hoch zu Ross entgegenkommt. „Der da auf dem Pferd angeritten kam, der sagte wir sollten uns vorbereiten, wir sollten packen und wir müssten nicht zur Schule an diesem Tag. Das fand ich natürlich toll. Wir sollten also warten, sie würden uns am nächsten Tag oder den Tag darauf Bescheid geben. Wären wir gleich am nächsten Tag… ach…“, die Zweiundachtzigjähre macht eine abfällige Handbewegung, um mir die Sinnlosigkeit des Unterfangens klarzumachen. Sie trägt einen hellen, erdfarbenen Pullover und ein Halstuch. Ihr kurzes, dauergewelltes Haar ist sorgfältig frisiert, das Make-Up dezent, die Augenbrauen leicht mit Kajal nachgezogen. Meine Tante Edith hat sich bereit erklärt, mir von ihren Erlebnissen im Januar 1945 zu erzählen, und ich zeichne das Gespräch auf, das wir am Küchentisch meiner Großmutter in Idzbark führen. Tante Edith spricht größtenteils Polnisch, manchmal wechselt sie mitten im Satz ins Deutsche. Durch das Küchenfenster schauen wir links auf die Pension meiner Eltern, in deren Dachgeschoss ich vorübergehend wohne, bis nebenan mein eigenes Haus fertiggebaut ist. „Heute sprechen Eltern mehr mit ihren Kindern, aber damals sagte Mutter nur: Naja, wir müssen packen. Ach, ich war dumm wie ein Kohlstrunk.“ Sie packen also. Die Mutter steigt auf das Kanapee und nimmt den Wandteppich von der Wand. Sie schneidet ihn in zwei gleich große Teile und entfernt die Fransen, um aus dem Stoff den Mädchen Rucksäcke zu nähen. Als Proviant holt sie getrocknete Brotreste hervor, die sie wochenlang und von den Töchtern unbemerkt gesammelt hatte. „Ich weiß noch wie der Großvater, den wir zu Weihnachten oben in Mühlhausen besuchten, zu meiner Mutter sagte, hier sei bald Krieg. Die in der Stadt wussten ja viel mehr, als wir hier in diesem Nest. Er befahl ihr, das Nötigste von Zuhause herzubringen, aber Mutter hat sich nicht entscheiden können “, fährt Tante Edith fort.

Als am Samstag, den 20. Januar, die drei in Steinfließ ihre Entscheidung doch noch treffen und packen, rollen nur wenige Kilometer weiter östlich schon die Räder der Treckwagen nordwärts, Richtung Osterode und Elbing. Der Treck kommt auf der Hohensteiner Chaussee noch ca. sieben Kilometer unbeschadet vorwärts, bis er bei Schildeck von zwei russischen Kampfflugzeugen beschossen wird. Des einen Leid ist des anderen Glück, das womöglich vielen Hirschbergern das Leben rettet. Als nämlich am Tag zuvor die drei Schüler des Hohensteiner Jungengymnasiums in Osterode aus dem Zug steigen, schlummert die „Perle des Oberlands“ friedlich unter der flauschigen Schneedecke, und die Hirschberger wollen erst recht nichts von einer Flucht wissen. Erst die Schüsse auf der nahe gelegenen Hohensteiner Chaussee bewegen am 20. Januar den Hirschberger Bürgermeister Emil Lipka dazu, die Räumung des Dorfes anzuordnen. Und hier beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, in dem die Bonins den Butschkowskis um einen ganzen Tag und um zwanzig Kilometer voraus sind. Trotzdem wird es für beide ein verlorenes Rennen. Die Nächte sind lang, die Straßen vereist. Auf den Feldern wirbelt der Schnee. Die breite Hohensteiner Chaussee muss für Fahrzeuge der Wehrmacht frei gehalten werden. Die Wagenkolonnen werden deshalb auf Nebenstraßen umgeleitet, wo der Ostwind seinen unheilvollen Abgesang auf Ostpreußen pfeift. Geschützdonner und Feuerschein von brennenden Ortschaften in der Ferne. Von Menschen, Kleidung, Bettzeug überquellende Wagen, dazwischen Menschen, die zu Fuß unterwegs sind und Handwagen oder Fahrräder schieben. Durchnässte Schuhe – schon jetzt – und laufende Nasen. Schreiende Säuglinge. Vom Wind getragenes Rasseln der deutschen Kettenfahrzeuge. Frauen, die darum betteln, auf einem der hoffnungslos überladenen Wagen mitgenommen zu werden. Pferde kommen auf den eisglatten Straßen nicht vorwärts, fallen um, stellen sich quer. Wagen krachen in die Straßengräben. Das ist nur der Vorhof der Hölle, die ihnen dicht auf den Fersen ist, und der sie doch knapp entkommen werden. Wenn in wenigen Stunden die Rote Armee in Osterode einmarschiert, wird aus der Perle des Oberlands ein glühender Feuerball. Fritz ist dann schon über die Hügel bei Pillauken, und Edith noch nicht einmal aufgebrochen. Es nützt alles nichts. Die Rotarmisten werden sie aufhalten. Für beide wird die Flucht dort enden, wo sie um den 20. Januar herum angefangen hat: in ihren Häusern, die ihnen nicht mehr lange bleiben werden. Die Uhr tickt. Den Bonins bleiben nur wenige Wochen mit dem Vater, der am 15. Februar von der Roten Armee verschleppt werden wird. Unter den kargen Ahornbäumen, vorbei am Dorffriedhof, wird er zusammen mit fünf weiteren Männern in den Osten ziehen. Sibirien? Vielleicht. Die Familie hört nie wieder etwas von ihm.

In diesen ersten Monaten des Jahres 1945 sind die Menschen in Hirschberg von Informationen abgeschnitten. In ihrer Ungewissheit versuchen sie, sich unter der russischen Besetzung zurecht zu finden, den kargen Alltag zu meistern und mit den wenigen Vorräten zu überleben. Da sind die Weichen allerdings schon längst gelegt, und der Zug der Geschichte, der 1939 ins Rollen kam, kommt jetzt so richtig in Fahrt. In 45 Jahren werde auch ich in diesen Zug steigen, damit ich später, als erwachsene Frau dort Wurzeln schlagen kann, wo meine Reise angefangen hatte: in dem auf einer Anhöhe malerisch gelegenen Dorf Idzbark am Fluss Drwęca, ehemals Drewenz. Aber noch nicht jetzt. Jetzt sind die Hirschberger erst einmal damit beschäftigt, die Drewenz von den stinkenden Pferdekadavern und Leichen zu befreien. Bald darauf überbringt ihnen einer der im Dorf stationierten sowjetischen Soldaten die Nachricht: „Hitler kaputt!“. Anfang Juli bezieht der erste Pole ein Haus in Hirschberg. Es ist das ehemalige Haus der Bonins. Aus Hirschberg wird Idzbark. Es beginnt ein Kommen und Gehen. Ende und Neuanfang tanzen engumschlungen wie Schneeflocken in einem Wintersturm und gehen fließend ineinander über. Die Einen gehen nach Norddeutschland, wo sie in Übergangslagern aufgenommen werden. Die anderen kommen aus der Gegend von Warschau, aus Lviv oder Sibirien. So auch, wenn auf vielen Umwegen, der junge Pole Marian Kamiński. Im Frühling des Jahres 1946 streift er das Dorf auf seiner Rückkehr aus Berlin, wo er vor einem Jahr gemeinsam mit seinem Bruder der Roten Armee den Krieg gewinnen helfen musste. Es ist eine Rückkehr, aber keine Heimkehr. Ein Zuhause hat der junge Mann schon lange nicht mehr, und zwar genau seit dem 10. Februar 1940. An diesem frostigen Wintertag wurden um 2 Uhr in der Früh Marian, seine sieben Geschwister und die Eltern in Rudki bei Lviv von Rotarmisten aus ihren Betten gezerrt und auf Schlitten gejagt. „Die Deutschen durften ja wenigstens was mitnehmen. Wir durften nur das mitnehmen, was wir uns anziehen konnten. So hat man uns mit Schlitten auf den Bahnhof gebracht. Dort wartete schon der Transport. Bis zu 300 Menschen fasste so ein Viehwagen. Die Stehenden und Liegenden mussten sich abwechseln. Nach einem Monat und acht Tagen, das haben kluge Alte gezählt, waren wir in Krasnojarsk angekommen.“ Mit diesen Worten beginnt Apolonia Wojarska ihre Geschichte. Wir sitzen am Küchenfenster in ihrem Haus an der von Ahornen gesäumten Dorfeinfahrt von Idzbark. Die Achtundachtzigjährige trägt eine Brille mit dicken Gläsern, eine Steppweste und ein Kopftuch. Ihre Füße sind in warme Wollsocken gehüllt, und sie sorgt sich auch um meine Füße, denn ich bestehe darauf, meine tropfenden Winterstiefel auszuziehen. Aus dem Nebenzimmer ertönt der katholische Radiosender Radio Maria. Ein Priester spricht zusammen mit einer Anruferin den Rosenkranz. Apolonia Wojarska erzählt mir von der sibirischen Odyssee ihrer Familie und davon, wie sie im April 1946 in Omsk ein Brief aus Polen erreichte: „Mein Bruder kam durch dieses Dorf und beschloss zu bleiben. Er hatte ja kein richtiges Zuhause, aber in Omsk warteten seine Frau und sein Kind. Er schickte uns die Adresse. Da hatte Stalin uns deportierten Polen schon die Ausreise erlaubt. Mein Vater war um diese Zeit schon tot, einer der Brüder gefallen. Ein weiterer lag in Poznań mit offener Bauchdecke im Krankenhaus. Wir übrigen haben Anfang April 1946 Omsk verlassen“. Ihre neue Heimat, die sie zum ersten Mal mitten in der Kirschblüte erlebt, beschreibt sie als „wunderschön“. „Wir waren ja bitterarm gewesen“, ergänzt Frau Wojarska. Für die Neunzehnjährige und ihre Angehörigen stehen die Lebensverhältnisse im Idzbark der Nachkriegszeit trotz ihrer Bescheidenheit im krassen Kontrast zu den Baracken in der Taiga und der Kolchose in Omsk. Die Familie zieht in ein leerstehendes Haus am Ende des Dorfes ein. Schnell macht man sich mit den Dorfbewohnern bekannt, unter denen noch viele Hirschberger sind. „Gajewski, Sadowski, Marchlewitz. Viele hatten polnische Nachnamen.“ „Wie haben sie sich mit ihnen verständigt?“, hake ich nach. „Wie wir uns verständigt haben? Die sprachen doch alle Polnisch. Ihre Urgroßeltern, das waren noch Polen gewesen. Dann haben sie sich germanisiert. Der Kontakt mit den Nachbarn war ganz normal. Der eine hat den anderen besucht. Die Marchlewitz ist hier gestorben. Der Siegfried, ihr Sohn, kommt noch manchmal und besucht hier das Grab. Der alte Gajewski, der musste nach Sibirien, der kam nie wieder. Manche sind dann weggefahren, manche sind geblieben.“ Ob es keine Berührungsängste zwischen den Dagebliebenen und den Zugereisten gegeben hätte, frage ich. „Nein, wir hatten keine Angst. Man hat sofort eine Kuh gekauft, ein Schwein. Es gab Arbeit zuhauf, Kinder wurden geboren.“ Hier in der warmen Küche von Apolonia Wojarska, fernab von dem Mediendiskurs und der Politik wird die Große Geschichte auf Einzelschicksale reduziert. Als Destillat bleibt das Menschliche übrig, das uns allen gemeinsam ist, egal ob in Hirschberg oder Idzbark. Egal, ob Deutsche oder Polin.

Immer öfter denke sie in letzter Zeit an die wahre Heimat, die jetzt zur Ukraine gehört: „In Sibirien, da lebte man noch so, als ob man zurück könnte nach Hause. Aber das ging nicht. Die hatten sofort unseren Hof auseinander genommen. Das war ja alles neu gewesen. Bis heute denke ich daran. Wenn ich sterbe, soll meine Seele nach Rudki fliegen. Der Mensch will immer dahin zurück, wo er geboren ist. Das hier, das ist nur vorübergehend.“ Als ich an der Küchentür meine Winterstiefel anziehe, bittet mich Frau Wojarska noch, ihren Namen nicht in der Zeitung zu nennen: „Aber erwähne bloß meinen Namen nicht, sonst schlagen die mich noch tot oder – um Gottes Willen – nehmen mich zurück nach Sibirien. Mir ist viel Unglück widerfahren. Ich würde lieber sterben, als noch einmal nach Sibirien zu gehen. Den Polen erzähl‘ das nicht, erzähle es den Deutschen. Die haben keine Angst vor dem Russen. Die sollen wissen, wie die Russen waren, wie sie sind.“
Ich trete hinaus in die sonnige Kälte. Der Schnee auf den Feldern blendet. Ich nehme den Heimweg durch die in Weiß gehüllte Ahornallee, vorbei am stillgelegten Friedhof, der auch von unserer Pension aus erkennbar ist und auf dem mein Vater eines Tages ruhen möchte, weil man von dort aus „einen herrlichen Blick auf die Pension hat“. Und auf mein neues Haus. Die Gräber sind jetzt vom Schnee bedeckt, aber die Inschrift auf der neuen Granittafel ist sehr gut erkennbar. In goldenen Lettern steht da in deutscher Sprache: „Zum Gedenken der Bürger von Hirschberg, die im Zweiten Weltkrieg ihr Leben und ihre Heimat verloren. Sie mahnen zum Frieden.“ Ich blicke mich ein wenig um auf dem Friedhof. Die Gräber sind aufgeräumt. Man sieht, dass viele davon gepflegt werden, und ich denke daran, wie viele Kerzen hier dieses Jahr an Allerheiligen brannten. Nicht nur die Schulkinder in Idzbark kümmern sich regelmäßig um den Friedhof, auch manche Dorfbewohner, die die Vorbesitzer ihrer Häuser kennen, kommen hierher. Sie pflanzen und gießen Blumen oder fegen im Herbst die bunten Ahornblätter von den Grabsteinen. Hier in Idzbark haben mehrere Familien ihren „Helmut“ in Deutschland. Nicht selten sind es Freundschaften fürs Leben mit gegenseitigen Einladungen, Briefen, die ich manchmal übersetze, Skype-Gesprächen. Hirschberger und ihre Nachfahren besuchen regelmäßig unsere Pension, bringen Fotos aus der Vorkriegszeit, erzählen aus der Vergangenheit. Über Vertriebenendiskurs, Nationalitäten und die Unkenntnis der Sprache des Anderen hinweg treffen sich in diesem Dorf Menschen auf einer Ebene, die auf tiefgehendem Mitgefühl, Verständnis und Menschlichkeit beruht, und zwar schon seit mehreren Jahrzehnten.

Bei meiner Oma am Küchentisch komme ich nicht drum herum, meiner Tante die Frage zu stellen, die ich selbst als Kind in Deutschland so verabscheute: „Wer bist du denn nun? Deutsche oder Polin?“ Die Antwort erscheint mir eigentlich offensichtlich, und Tante Edith antwortet auf Polnisch: „Naja, du musst bedenken, dass ich bis zum zwölften Lebensjahr überhaupt kein Polnisch sprach…“ Die Pointe allerdings ist alles andere als selbstverständlich: „Aber ich weiß es nicht. Es ist mir auch egal.“ Tante Edith reiste 1984 nach Meerbusch-Büderich aus, wo ihre Schwester Hilde nach dem Zweiten Weltkrieg Wurzeln geschlagen hatte und wohin ihr die Mutter und Ediths jüngste Schwester Christel gefolgt waren. Nach dreißig Jahren allerdings kehrte meine Tante, mittlerweile achtzigjährig, zurück ins Oberland. Sie mietete eine Wohnung in Ostróda, dem einstigen Osterode Ostpreußen.
Wie treffend doch Marion Gräfin Dönhoff einen ihrer Buchtitel gewählt hat: „Namen, die keiner mehr nennt.“ Hirschberg, Döhlau, Osterode gibt es heute weder als Namen, noch als die Orte, die sie einmal waren. Und doch sind sie da. Wir leben hier, können diese Orte förmlich greifen, obwohl sie im gewissen Sinne für immer verschwunden sind. Ein Bisschen von der Sehnsucht, die die Ostpreußen gespürt haben müssen und wahrscheinlich immer noch spüren, kann ich wohl nachempfinden. Der Ostwind, der Hilde Butschkowski 1945 in den Westen verschlagen hatte, holte, als Wind of change, meine Eltern und mich 1990 dazu. Ich kam in Meerbusch in die zweite Grundschulklasse, machte dort Abitur auf dem Mataré-Gymnasium. 2013 kam ich zurück nach Idzbark, wo meine Eltern zwischenzeitlich den alten Bauernhof der Großeltern zu einer Pension umgebaut hatten. Hier, am Rande der EU, wohne ich nun und bin als Autorin und Fotokünstlerin tätig. Ich leite die von mir gestiftete Stiftung Kunst der Freiheit. Als vor wenigen Jahren in Idzbark erstmals Straßennamen eingeführt werden sollte, schlug ich für unsere Straße den Namen Straße der blühenden Kirschbäume vor. Auf diese Weise lebt Frau Wojarskas Erzählung von den Anfängen dieses Dorfes unter polnischer Staatshoheit weiter. Meine Nachbarn stimmten bei der Dorfversammlung gerne für diesen Namen. Einige von ihnen pflanzten anschließend Kirschbäume in den Vorgärten, um dem Namen gerecht zu werden. Weite Welt hin oder her, Frau Wojarska hat Recht: der Mensch will immer dahin zurück, wo er geboren ist.

* Auf Wunsch der Interviewten habe ich die wahren Namen von Apolonia Wojarska und ihrem Bruder nicht genannt.
* Die Erlebnisse von Fritz Bonin und seiner Familie habe ich dem Buch „Zwei Wege aus Ostpreußen“ entnommen. Es sind Erinnerungen von unseren Freunden Fritz und Inge Bonin, verfasst und herausgegeben von Gabriela und Sonja Bonin, Monsenstein und Vannerdat, 2008.